Analyse&Meinung : "Tiers Payant Généralisé" und Staatsmedizin

Jill Sterba war am Ende des Monats genervt über ihre Arzthonorare. Die junge Mutter hatte mehrere Arztbesuche, bei Gynäkologen und Kinderärzten, innerhalb kurzer Zeit tätigen müssen. Die Höhe der Honorarbeträge zwang sie eigenen Aussagen nach auf ihre Sparreserven zurückzugreifen, um in Vorleistung treten zu können. Eine Zumutung, wie sie empfand. Sie beschloss, eine Petition zur Einführung des Tiers payant généralisé aufzusetzen, um künftig der Allgemeinheit die Vorleistungslast der ärztlichen Honorare zu ersparen. Eine Petition, deren Zuspruch zur öffentlichen Debatte in der Abgeordnetenkammer über Gesundheit, Medizin und Krankenversicherung geführt hat.

Jeder Bürger hat das Recht, sich aufzuregen, ja genervt zu sein. Berechtigterweise oder nicht, über tatsächliche oder empfundene Missstände. Jeder Bürger hat das Recht, Petitionen aufzusetzen, Interessengruppen zu gründen, sich für seine Überzeugungen einzusetzen, seine Meinung kund zu tun.
Jeder Bürger hat auch das Recht, im Krankheits- und Bedarfsfall auf die solidaritätsgetragene Gesundheitsversorgung zurückzugreifen und Zugang zu allen angemessenen medizinischen Leistungen einzufordern. Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und der allgemeine Zugang zur angemessenen Gesundheitsversorgung sind Grundrechte, auf die sich unsere Gesellschaft geeinigt und deren Wahrung sie an den Staat als ordnendem Gemeinwesen übertragen hat. Während beide erstgenannten Grundrechte in Luxemburg heute kaum jemand anzweifelt, scheint die Frage beim Zugang zur Gesundheitsversorgung offenbar nicht geklärt.

In nationalen und internationalen Veröffentlichungen wird das luxemburgische Gesundheitswesen stets als großzügig und wettbewerbsfähig gelobt. Neuere Daten belegen gar, dass die Gesundheitskosten im direkten Vergleich mit unseren Nachbarländern verhältnismäßig niedrig sind. Es wird gerne unterstrichen, dass jeder Versicherte Zugang zur bestmöglichen Gesundheitsversorgung haben soll, doch darf die Gesundheitskasse nicht über das Prinzip des „utile et nécessaire“ hinaus rückerstatten.Selten wird allerdings bemerkt, dass es auch Bürger und Einwohner gibt, die aus welchen Gründen auch immer, nicht im System der Sozialversicherung aufgehoben sind. Selten wird auch gefragt, wo, wie und von wem das Nützliche und das Notwendige definiert werden, also entschieden wird, was das bestmögliche Gesundheitsangebot für den Versicherten ist, und somit auch, was die bestmögliche Medizin ist. Denn in einem Gesundheitssystem wie dem luxemburgischen, in dem den Ärzten von staatlicher Seite über Konventionen der Leistungskatalog vorgeschrieben und das Anbieten aller tatsächlich existierenden und nützlichen medizinischen Leistungen außerhalb dieses Leistungskatalogs fast unmöglich gemacht wird, kann man nicht ernsthaft vom bestmöglichen Medizinangebot auf dem letzten Stand der Wissenschaft für die Versicherten sprechen.

Die Ärzte sind nicht mehr in der Lage, ihre Leistungen regelkonform auf ihren Honoraren abzubilden. Von einer wirklichen Therapiefreiheit kann somit auch heute bereits nicht mehr die Rede sein. Das offizielle medizinische Angebot in Luxemburg entspricht zum Großteil einer Medizin, die es heute nicht mehr gibt. Und die Formel des „utile et nécessaire“ wird gerne angeführt, um die kontinuierliche Anpassung des medizinischen Leistungskataloges an die medizinische Wirklichkeit zu bremsen. Denn die zentrale Frage, die der Staat und seine verantwortlichen Politiker stets vermeiden, ist jene nach dem Wert der einzelnen medizinischen Leistung. Was ist dem Staat die Gesundheit des Einzelnen wert? Gesundheit kostet, weil Medizin kostet.
Der medizinische Fortschritt hat seinen Preis. Ein längeres Leben bei besserer Gesundheit fordert eine Gegenleistung.
Wenn ein Staat sich entschließt, seinen Bürgern die bestmögliche Gesundheitsversorgung zu versprechen, kann er das nicht, ohne auch die Kostenfrage zu beantworten. Heute und in der Zukunft, wissend, dass sich auf dem dynamischen Feld der Medizin der Fortschritt schnell wie in kaum einem anderen Bereich weiterentwickelt.

Wenn der Patient heute in Luxemburg Medizin auf höchstem internationalem Niveau angeboten bekommt, ist es nicht Dank, sondern trotz der Sozialversicherungspolitik.

Das medizinische Angebot entsteht durch hoch qualifizierte, motivierte und engagierte Ärzte, die sich unter großem Aufwand auf dem letzten Stand der Wissenschaft halten, um ihren Patienten die beste Medizin zugutekommen zu lassen. Die Ärzte, die den Fortschritt bringen und umsetzen, investieren Zeit und Mittel zum fundierten Erlernen der Konzepte und Techniken, um sie zum Wohle ihrer Patienten anbieten und einsetzen zu können.
Die Leistung des Arztes hat einen Wert. Ärzte sind keine Geschäftsleute und handeln nicht mit der Gesundheit ihrer Patienten. Sie erbringen eine Leistung, nach Absprache und mit der aufgeklärten Zustimmung ihrer Patienten, und diese Leistung fordert Anerkennung.
Ärzte stellen keine Rechnungen aus, sondern Honorare, also Anerkennungsforderungen für die am Patienten erbrachte Leistung. Und hier trifft die Frage nach dem Wert der Gesundheit des Einzelnen auf die Frage nach dem Wert der medizinischen Leistung. Und es schließt sich hieran die Frage nach Ort und Kompetenz der Festlegung dieses Wertes.
Grundsätzlich findet Medizin zuallererst im Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Arzt statt. Der Patient sucht den Arzt mit einem Gesundheitsproblem auf und beschließt mit diesem auf der Grundlage seiner Diagnose den weiteren Behandlungsverlauf. Es ist normal, dass in diesem Zusammenhang in aller Transparenz auch die Kostenfrage erläutert werden muss. Erst wenn Behandlungsplan und Kostenvoranschlag vorliegen, kann und soll über die Kostenübernahme gesprochen werden. Als Kostenträger können hier der Patient, die Sozialversicherung, eine Zusatzversicherung oder eine private Versicherung auftreten.
In Luxemburg wurde dieser Grundsatz über die Jahre umgekehrt: der quasi einzige Kostenträger bestimmt heute, über den einzig gültigen, veralteten, Leistungskatalog, welche Leistung erbracht werden kann und somit welche Medizin dem Patienten zusteht. Das Prinzip des „utile et nécessaire“ wird bei jeder Interpretation über im Leistungskatalog aufgeführte Leistungen oder bei Diskussionen über neue Leistungen missbraucht, um Leistungen zu streichen, Leistungsforderungen abzuwehren oder Leistungsansprüche zu mindern.
Die Deutungshoheit über die medizinischen Leistungen liegt derzeit beim Kontrollarzt der Sozialversicherung, der bei jeder für den Patienten und seine Gesundheitsfragen relevanten Diskussion auftritt und entscheidet. Heute entscheidet in Luxemburg der Sozialversicherungsträger über die medizinische Versorgung seiner Versicherten.

Und diese Wirklichkeit spüren die Patienten tagtäglich, ohne sich ihres Ursprungs bewusst zu sein.

Die öffentlich finanzierte Gesundheitsversorgung ist von Natur aus restriktiv. Mit öffentlichen Geldern werden Güter finanziert, die nur schwer kontrollierbar sind: die öffentliche und die individuelle Gesundheit. Im Spannungsfeld von individueller Freiheit und Selbstbestimmung einerseits und dem staatlichen Wohlfahrtsprinzip andererseits entsteht ein enormer Kostendruck, dessen exponentielle Entwicklung durch die Demografie, den medizinischen Fortschritt und die unhaltbaren politischen Versprechen für das öffentliche System untragbar wird. Es ist der Zeitpunkt erreicht, an dem der Staat die Karten auf den Tisch legen und den Versicherten erklären muss, was ihm ihre Gesundheit wert ist. Und wie in der Zukunft die Finanzierung der Gesundheit stattfinden soll. Es muss offen und vorbehaltsfrei über das Notwendige, über Eigenverantwortung, über Selbstbestimmung, über Solidarität geredet werden. Verwehren wir uns als Gesellschaft dieser Diskussion, rutschen wir in die Staatsmedizin ab, in der per Diktat das Nützliche und Notwendige in Abhängigkeit von den alleinigen Interessen des Staates festgelegt wird. Medizin auf höchstem internationalem Niveau, Fortschritt und Qualität werden dann nicht einmal mehr als leere Worthülsen zirkulieren.

Staatsmedizin ist die Abkehr von Dynamik, Fortschritt und Qualität.

Die wirtschaftliche Unabhängigkeit des Arztes ist seit jeher ein Garant für die medizinische Unabhängigkeit seiner Leistung und sein soziales Engagement fernab von geregelten Arbeitszeiten. Sie muss gewährleistet bleiben, damit der Arzt unabhängig und einzig im Sinne des Patienten entscheiden kann. Der Arzt ist und bleibt in erster Linie seinem Patienten verpflichtet, erst danach dem Staat und dessen Auftrag zum Erhalt der öffentlichen Gesundheit. Beides darf nicht vermischt werden.
Arzt und Patient dürfen nicht zu Empfängern von staatlichen Bestimmungen und Befehlen werden. Das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen muss in jedem Falle gewahrt bleiben. Die Verallgemeinerung des Tiers payant und die hiermit verbundene Abkehr vom Vorleistungsprinzip beim Begleichen der Arzthonorare wird den Weg in die Staatsmedizin beschleunigen.

Das Gefühl für den Wert der einzelnen Leistung, dessen sich der Patient heute, sofern der Leistungskatalog diese Leistung auch abbildet, noch bewusst ist, wird beim Tiers payant généralisé verloren gehen. Dies wiederum wird Leistungsmanipulationen und Leistungsreduktionen durch den Monopolisten Gesundheitskasse zukünftig deutlich erleichtern. Auch, weil der Arzt die Entscheidungen zur Vergütung seiner Leistungen vom Monopolisten als einzigem Zahler zwangsläufig akzeptieren muss. Der Patient ist aus dem Vergütungs- und somit Entscheidungsprozess über seine Gesundheitsleistung ausgeschlossen und muss jene Leistungen, die vom Monopolisten Gesundheitskasse über ihn getroffen werden, ebenso akzeptieren.

Wer bezahlt, entscheidet.

Der Willen zur Leistungseinschränkung ist offensichtlich, die Motivationen und Ursachen wurden bereits aufgeführt.
Konkret weiß jeder, der drei Monate und länger auf eine wichtige MRT-Untersuchung warten oder nützliche
Behandlungen wie die Hyaluronsäureinjektionen ins Kniegelenk selbst zahlen muss, dass die Tendenz zur Restriktion unweigerlich fortschreitet und das System auf ein so potentes Instrument wie den Tiers payant généralisé als Beschleuniger nur wartet.
Als Ärzte stehen wir für den allgemeinen Zugang zur angemessenen Gesundheitsversorgung.
Keinem Menschen darf auf Grund seiner sozioökonomischen Umstände eine notwendige medizinische Leistung verwehrt
bleiben. Auch nicht jenen, die außerhalb des Sozialversicherungssystems stehen. Die Lösungen für die vielschichtigen Probleme dieser Menschen finden sich allerdings nicht in der direkten Honorarabwicklung zwischen Ärzten und Gesundheitskasse, sondern in der individuellen Analyse ihrer Situation und ihrer geordneten Rückführung in das System. Als Ärzte werden wir uns weiterhin und jederzeit dafür einsetzen, dass jeder Mensch die Medizin bekommt, die er braucht.
Über die Mittel, mit denen ein solch allgemeiner Zugang zur Gesundheit umgesetzt werden soll, muss aber eine offene und breite Diskussion stattfinden. Wir lehnen die Weiterführung eines Systems, das den Menschen augenscheinlich alles verspricht, um dann über ausgeklügelte Mechanismen im Hintergrund lediglich das zu geben, was es für finanzierbar hält, kategorisch ab. Und fordern nicht weniger als eine Neuorientierung der Sozialversicherungspolitik in Gesundheitsdingen
auf der Grundlage einer ehrlichen Auseinandersetzung mit den betroffenen Bürgern. Im Wahljahr ist es an der Zeit für unsere Politik, sich sachlich und kompetent mit diesem hochsensiblen Fragenkomplex auseinanderzusetzen, Farbe zu bekennen und unmissverständliche Antworten zu geben.

Frau Sterbas Forderung nach dem Tiers payant généralisé hat geholfen, lange verschleierte, grundsätzliche Probleme unseres Sozialversicherungssystems zu thematisieren. Wir hoffen, dass ihr bürgerliches Engagement auch anderen zum Vorbild dient, sich an dieser Diskussion zu beteiligen und ihr Recht auf Aufklärung und Selbstbestimmung in Gesundheitsdingen zu verteidigen.


* Dr. Alain Schmit ist Präsident des Verwaltungsrats der Ärztevereinigung AMMD, Dr. Philippe Wilmes ist Mitglied
des Verwaltungsrats der AMMD und Präsident des Ärzterats der „Hôpitaux Robert Schuman“

 

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